"Das habe ich wieso schon gewusst!", rief Marlon sichtlich erbost in die Klasse, als ein
anderes Kind eine Aufgabe vor ihm löste.
"Ist ja babyeinfach!"
Ich gab dem anderen Kind die Möglichkeit, der Klasse zu erklären, wie es auf die Lösung gekommen war.
Marlon gefiel das nicht und so rief er permanent in die Klasse, ließ Stifte vom Tisch rollen und wippelte lautstark mit seinem Stuhl.
Ich hatte wenig Geduld an diesem Tag und bat Marlon sehr deutlich, "mit dem Theater aufzuhören!", was zur Folge hatte, dass meine Worte die Situation verschärften.
Marlon war es gewohnt, immer der Schnellste, Klügste und Beste zu sein. Daheim gab es niemanden, an dem er sich messen konnte und nun in der Klasse waren da so viele Kinder und einige lernten genauso schnell wie Marlon.
Er fand seine Position bedroht und musste mit einem Mal das fühlen, was sonst nur andere Kinder fühlten.
Womöglich kannte Marlon dieses Gefühl nicht und wusste zunächst nicht damit umzugehen.
Seine Reaktion war also durchaus nachvollziehbar und verständlich.
Ich hatte schlicht nicht die Nerven an diesem Tag, Marlon sein Verhalten "durchgehen" zu lassen. Ich war entnervt. Viele Dinge geschahen gleichzeitig und ich freute mich für das andere Kind, das die Aufgabe so souverän gelöst hatte.
Verständnis und Geduld hätte in dieser Situation mehr gebracht als mein verschärfter Ton und die Aufforderung an Marlon, zuzuhören und nicht länger zu stören.
Mein Verhalten entwickelte eine Spirale. Marlon fühlt sich missverstanden und seine Störungen wurden aggressiver.
Meine Genervtheit wuchs und meine Ton wurde rigoroser.
Häufig wird Verständnis gleichgesetzt mit "regellos" oder "die dürfen ja alles".
Dabei hätte vermutlich ein freundlicher Satz meinerseits sowie den Ausblick auf weitere Aufgaben genügt, um die Spirale zu unterbrechen bzw. gar nicht entstehen zu lassen.
Natürlich musste Marlon lernen mit solchen Situationen umzugehen, aber meine Erwartungshaltung war, er müsste es sofort lernen und umsetzen.
Das war utopisch.
Denn auch ich lernte nicht sofort und setze auch nicht sofort um.
An diesem Tag fanden wir nicht mehr zueinander. Marlon und ich.
Und ich nahm dem Jungen die Chance, sicher aus einer für ihn unsicheren Situation herauszukommen.
Heute würde ich anders reagieren.
Viele Jahre danach.
Lernprozesse dauern lange.
Und sind manchmal anstrengend und mühsam.