Es gab keine Haustür. Unser Blick fiel sofort in einen verdreckten und zugemüllten Hausflur.
Irgendwo in einer höheren Etage stritten sich Menschen lautstark, es ging etwas zu Bruch und wir hörten Schreie.
Das Mehrfamilienhaus lag an einer vielbefahrenen Hauptstraße.
Wir waren bei Lia zu Hause.
Wir mussten eine auseinanderfallende Stufe hoch in den Flur des Hauses treten.
An den Wänden sahen wir die kläglichen Überreste von Metallboxen, die einmal Briefkästen gewesen sein könnten.
Fäkalien verströmten einen unangenehmen Geruch. Im Flur standen zwei alte Einkaufswagen.
Wir stiegen die Treppe empor und hielten Ausschau nach Klingelschildern, die es nicht gab.
Es gab Gerüche, viele unangenehme Gerüche, es gab Streit, lautstarken Streit, es gab angemalte Wände, aus denen der Putz bröckelte, Mülltüten und Schuhe.
Überall standen Schuhe herum.
Das war unser Glück, denn wir erkannten Lias Schuhe und nahmen an, dass sie hier mit ihrer Familie wohnte.
Unser Hausbesuch war angekündigt und wir hatten das Ziel, die fehlenden Unterlagen abzuholen.
Die Klingel funktionierte nicht, wir klopften an und Lia öffnete die Tür, strahlte uns an und begrüßte uns.
Das zumindest nahmen wir an, ihre Worte konnten wir leider nach wie vor nicht wirklich verstehen.
In der Wohnung war es sauber.
Und leer.
Nicht menschenleer, nein, die ganze Familie war zu Hause, aber möbelleer, einrichtungsleer.
Es gab eine kleine Küchenzeile und in einem Raum saßen alle am Boden, auf einer Art Teppich.
Ein Fernseher lief.
Lias Eltern begrüßten uns herzlich und boten uns Tee an.
Mein Herz wurde schwer.
Lias Vater holte eine Plastiktüte, als wir nach den Unterlagen fragten. In dieser Tüte befanden sich - offensichtlich - wichtige Dokumente.
Er ließ uns die Tüte durchsehen, aber die Unterlagen, die wir benötigten, waren nicht darin.
Mehr hätten sie nicht, erklärten uns die Eltern, da sei alles.
Lia und ihre Geschwister sahen derweil fern und aßen.
Sie schienen vergnügt und munter, kannten es nicht anders.
Durch offene Türen konnten wir in andere Räume schauen.
Matratzen am Boden, Kleidung in Plastiksäcken.
Natürlich kannte ich die Statistiken zur Kinderarmut. Ich hatte sie in meiner beheizten Wohnung, schön gemütlich auf dem Sofa liegend gelesen.
Mir war bekannt, dass Kinder in Deutschland in Armut aufwuchsen.
In der Theorie.
Nun erlebte ich die Praxis.
3 km von meinem eigenen schönen Zuhause entfernt.
3 km.
3 km, die die Welt ausmachten.
3 km zwischen zwei Welten.
Und nur der Zufall oder das Schicksal entscheiden, in welcher der Welten du leben darfst.
3 km.
Und wir erwarten tatsächlich, dass Kinder aus diesen so anderen Welten morgens in die Schule kommen und lernen.
Es wurde Zeit, meine Erwartungen zu überdenken.
Es wurde Zeit, Schule neu zu denken.
3 km.
Sie bedeuteten die Welt.
Bis hierher habe ich chronologisch gelesen, alles, was du schreibst, habe ich erlebt, und nun schreibst du von dem Hausbesuche und deinen Gedanken, und ich erinnere eine exakt gleiche Situation, 1999 in Münster, und meine extrakt gleichen Gedanken damals... Wie kann ich erwarten, dass dieses Kind pünktlich und mit Hausaufgaben und Material zur Schule kommt? Sie hat nicht einmal ein Bett oder einen Schreibtisch... Es ist wie ein Erinnerungstagebuch von mir. Verrückt... Und mir fließen Tränen.
Ich bin gespannt, wie es weiter geht
vom 21.10.2023, 15.39