Seit wenigen Wochen besuchte Lia nun unsere Klasse, die erste Klasse und ich durfte sie
als Klassenlehrerin begleiten.
In den zehn Monaten zuvor waren unsere Bemühungen, Lia sprachlich zu helfen,
leider gescheitert und es stellte sich als echte Herausforderung dar,
Lia zu verstehen.
"Okee!", sagte Lia eigentlich immer, wenn man ihr etwas erklärte oder ihr eine Aufgabenstellung gab. In der Regel erfolgte nach dem "Okee!" dann eine ganz individuelle Auslegung der Bearbeitung einer Aufgabe, die mit der ursprünglichen Idee nicht immer viel gemeinsam hatte.
"Schau mal, Lia, diese Kirschen kannst du zählen und genauso viele Striche zeichnen, wie Kirschen da sind!", hätte eine solche Aufgabe sein können und Lia hätte freundlich und lächelnd "Okee!" gesagt, möglicherweise zur Schere gegriffen und die Kirschen aus dem Mathebuch ausgeschnitten.
Oder aber sie malte wunderschöne Regenbogen über die Kirschen, malte weitere Kirschen, Äpfel und Trauben dazu und ließ sich auch ansonsten in ihrer kleinen Welt kaum beirren.
Wir fanden schnell heraus, dass Lia alles verstand, was wir sagten, aber einfach gern ihren eigenen Ideen und Impulsen folgte. Nicht unkommentiert, eher im Gegenteil, Lia erzählte und kommentierte viel und gern und lang und oft.
Nur leider nach wie vor gänzlich unverständlich.
Die Klasse fand jedoch zu einem guten Umgang mit Lia und sie war gut in die Gemeinschaft integriert. Alle folgten ihren Erzählungen aufmerksam und das wissende Kopfnicken war auch auf diese Lerngruppe übergegangen.
Da Lia einzelne Laute noch nicht richtig artikulieren konnte, war alles, was mit Lauten, Buchstaben und dem Leseprozess zu tun hatte für sie extrem schwierig.
Ich bat bei einer mir bekannten Sonderpädagogin, an unserer Schule gab es zu dieser Zeit diese Profession leider nicht, um Hilfe und erhielt netterweise einige Materialien für Lia.
Uns war bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte und wertvolle Lern- und Lebenszeit des Kindes einfach "verpuffte".
Ich konnte mein Bestes geben, aber mein Bestes war lang nicht gut genug für Lia.
Die Kooperation mit dem Jugendamt lag nahe, denn dem Kind nicht die Hilfe geben zu können, die es so dringend benötigte, war eine Form der Kindswohlgefährdung.
Lia bekam nicht wirklich viel von dem mit, was im Hintergrund geschah. Sie hüpfte fröhlich durch ihr kleines Schulleben, sah mich morgens durch ihre verschmierten Brillengläser an und fragte: "Okeee!", während sie mein Hand streichelte.