Der stattliche Mann stand unvermittelt im Schulleitungsbüro. Ich erschrak, denn ich hatte
mit keinem Besucher gerechnet. Seine stahlblauen Augen schienen mich zu durchbohren. Ich hatte Respekt, aber noch keine Angst.
Die Angst kam mit seinen ersten Worten: "Wo ist Ali?" und mir schwante, dass dies Alis Vater sein könnte, den ich bislang nicht kennengelernt hatte.
In den Monaten zuvor hatte ich viel über Alis Vater gehört und seine Anwesenheit in meinem Büro verhieß nichts Gutes. Ich versuchte meine Angst hinter professioneller Höflichkeit zu vebergen:
"Sind Sie Alis Vater? Schön, Sie kennenzulernen, ich bin Frau Schäfer! Ali ist im Unterricht. Was kann ich für Sie tun?"
Niemand hatte mir gesagt, dass Alis Vater Hafturlaub hatte, ich hätte mich und Alis Familie besser vorbereitet, hätte ich davon gewusst.
Das war der Mann, der seinem eigenen Sohn, nachdem er ihn in den Schwitzkasten genommen hatte, eine Pistole an den Kopf gehalten hatte. Das war der Mann, der seine Familie seit vielen Jahren in Angst und Schrecken versetzte und nun stand er hier.
Er war sehr höflich und freundlich und gab mir keinen weiteren Anlass zur Sorge. "Ich nehme Ali mit!", sagte er und mir wurde mulmig.
"Ali macht große Fortschritte und hat gleich Sportunterricht, den liebt er sehr. Es wäre schön, wenn er daran teilnehmen könnte und es wäre wichtig für Ali!", entgegnete ich.
"Ich nehme Ali mit!"
Niemand hatte mich gewarnt oder mir je gesagt, dass solche Situationen zu meinem Schulleitungsalltag gehören würden. Ich war naiv, ich war unvorbereitet, ich war ängstlich und ich war hilflos.
Ich bat den Vater, Platz zu nehmen und holte eine Kollegin dazu. Informierte die Sekretärin, dass diese auf Zuruf Polizei und Jugendamt verständigen würde.
Dann setzten wir uns zu dem Vater und ich berichtete ein wenig über Alis Fortschritte in den vergangenen Monaten.
Dabei übertrieb ich und stellte die Situation besser und positiver da, als sie tatsächlich war.
Alles, was ich wollte war, dass der Mann einfach so leise wie er gekommen war, wieder ging.
Ohne Aufruhr, ohne Ärger, ohne Stress.
Alis Vater blieb höflich, fragte nach, erklärte sein Sohn sei sehr klug und stand irgendwann unvermittelt auf und ging.
Ohne ein weiteres Wort.
Er stand auf und ging und mir fiel ein Stein vom Herzen.
Ali nicht. Ali fiel kein Stein vom Herzen und auch nicht Alis Mutter. Die nächsten Tage waren geprägt von alten Verhaltensweisen. Das Heizungsrohr wurde erneut zum Rettungsanker. Gefühlt fingen wir wieder bei Null an.
Täglich.