Der Tisch fiel mit lautem Getöse um, was folgte war noch lauteres Geschrei und vermutlich die Angst der Klasse unter uns, die Decke würde ihnen auf den Kopf fallen.Diese Angst war in unserem alten Schulgebäude nicht ganz unbegründet,
erst in der Woche zuvor war die Deckenbeleuchtung in einer Klasse herabgefallen.
Glücklicherweise hatte die Klasse sich gerade auf einem Ausflug befunden.
Niemand hatte sich verletzt, nicht bei der herabfallenden Deckenbeleuchtung und auch nicht durch den umgestürzten Tisch.
"Der ist aus Versehen umgefallen! Echt. Ich war das nicht. Voll nicht. Echt!", erklärte mir Ali.
"Mir ist noch nie ein Tisch aus Versehen umgefallen", antwortete ich, "heb ihn bitte auf und arbeite weiter!"
Vor einigen Wochen wäre ein solches Gespräch unmöglich gewesen. Noch unmöglicher, dass Ali meiner Bitte Folge geleistet hätte.
Doch nun hob er den Tisch auf, setzte sich wieder und arbeitete.
Nicht an den und mit den Materialien, die andere Kinder nutzten, aber Ali arbeitete. Allein. Selbstständig. Mehr oder weniger motiviert.
Vor einigen Wochen wäre ich vielleicht noch genervt gewesen vom umfallenden Tisch. Ich hätte mich möglicherweise auf das Negative konzentriert, wäre wütend geworden, hätte geschimpft, hätte den Blick dafür verloren, was Ali in den letzten Wochen geleistet hatte.
Ohne professionelle Hilfe.
Ali hat mich gelehrt, auf das Positive zu schauen, auf das, was möglich ist, auf die Entwicklung, den Prozess, die nicht in Lehrplänen verankerte Leistung.
Da hatte sich dieser kleine Junge durchgebastelt. Durch Wut und Zorn, durch Kummer, Leid, Angst, durch Selbsthass, durch Schmerzen, durch Geschimpfe, durch Fehler, durch mangelnde Impulskontrolle.
Ganz allein.
Irgendwie.
Ali hätte eine Lehrerkraft an seiner Seite haben sollen, die genau das studiert und gelernt hat: Den Umgang mit Kindern mit Schwierigkeiten im sozial-emotionalen Bereich.
Bekommen hat Ali mich, eine Lehrkraft, die genau davon keine Ahnung hat. Die sich ihr Wissen aus Büchern und dem Internet angeeignet hat, der man nie erklärt hat, wie man mit traumatisierten Kindern umgeht, die nach bestem Wissen und Gewissen und viel Gefühl arbeitet, die 31 weitere Kinder in der Klasse sitzen hat und die täglich nach Hause ging in dem Wissen, dass das ein Vergehen an Ali ist.
Und Ali steht hierbei beispielhaft für viele Kinder. Vielleicht gar für alle Kinder. Das war der Zeitpunkt, in dem ich als Schulleitung begann in entsprechenden Schulleitungsrundn darauf aufmerksam zu machen, dass auch, wenn wir das Beste wollen, wir nicht unbedingt für das Beste für alle Kinder sind.
Mit einem gebrochenen Arm gehe ich auch nicht zwingend zu meiner Gynäkologin.
Das war aber auch der Zeitpunkt, an dem man mir immer wieder zu verstehen gab, ich müsse phantasievoller und kreativer mit solchen Situationen umgehen und Inklusion anders leben.
Das tat ich fortan. Kreativ und phantasievoll.
Jedoch nicht aufhörend dafür einzustehen, dass einige Kinder professionelle Hilfe nötig haben. Hilfe, die ich nicht zu geben vermag. Unabhängig von meiner Kreativität.
Ali hatte viel gelernt. Ich mindestens ebenso viel.
Eigentlich sogar noch viel mehr.