Eine kleine, klebrige Hand schob sich in meine und durch dicke, schwere Brillengläser - die Brille hing schräg auf der Nasenspitze - sah Lia mich an und sagte:"Okee!"
Ich wusste damals noch nicht, wie oft ich dieses "Okee!" hören würde.
Es war Ende Oktober und täglich kamen Kinder zu uns in die Schule, die in zehn Monaten eingeschult werden würden.
In kleinen Gruppen von je vier bis fünf Kindern gingen wir mit ihnen in unseren "Zauberwald" und spielten etwa 45 Minuten mit ihnen.
Die Eltern wurden währenddessen in einem Elterncafé von unserer Schulsozialarbeiterin betreut.
Wir saßen auf Sitzkissen am Boden im Kreis und Konstantin, der sehr alte, kleine Drache stellte sich den Kindern vor und die Kinder stellten sich ebenfalls vor.
Lia, die nun meine Hand streichelte, saß neben mir am Boden und redete unentwegt.
Es war so ein gleichförmiger Redefluss, dem ich hin und wieder vereinzelte Wörter entnehmen konnte, der aber ansonsten eher unverständlich war.
"Verstehst du die?", wollte dann auch ein anderes Kind direkt wissen und ich antwortete: "Ein bisschen, ja, ich muss vielleicht noch genauer hinhören!"
Wir redeten, hüpften, spielten, reimten, malten, sortierten und hatten viel Spaß - wie mit jeder dieser kleinen Schulneulingsgruppen.
Doch auch im Laufe des Schulspiels verstand ich Lia nicht besser.
Ich hörte, sie sprach eine Art von Deutsch, aber sie konnte einzelne Wörter und Laute noch nicht verständlich artikulieren, was sie aber nicht daran hinderte - auf entzückende Art und Weise - sehr viel zu erzählen.
Ich war froh, wenn ich einzelne Wörter heraushören konnte und stürzte mich dann auf genau diese Wörter, um mit Lia ins Gespräch zu kommen.
Nun war es das Wort "Salami", das ich als einziges Wort verstanden hatte und meine Nachfrage ergab einen weiteren - und wirklich reizenden - unverständlichen Redeschwall.
Die anderen Kinder eiferten mir nach und nickten verständig mit ihren kleinen Köpfen.
Nur leider verstehen, verstehen konnten wir rein gar nicht.
Im anschließenden Gespräch mit den Eltern versuchten wir die Problematik aufzuzeigen, aber wie empathisch wir auch vorgingen, Lias Eltern lehnten jegliche Hilfe ab und machten sehr deutlich, dass sie keiner Überprüfung des eventuell bestehenden Förderbedarfs zustimmen würden.
Auch unser Förderscout, eine wunderbare Stelle, die geschaffen worden war, um Eltern vom Schulspiel bis zur Einschulung zu begleiten und Hilfen an die Hand zu geben, war erfolglos.
Ohne Mitarbeit der Eltern waren viele, nahezu alle Hilfsangebote nicht umsetzbar.
Und Lia benötigte dringend Hilfe. Bei der Schwere der sprachlichen Beeinträchtigung war es offensichtlich, dass wir als Grundschullehrkräfte nicht über die
fundierte Ausbildung verfügten, Lia helfen zu können.
Lia selbst hüpfte - derweil wir mit ihren Eltern redeten - fröhlich und unbeschwert über den Flur.
Eine Unbeschwertheit die sie - solange ich Lia begleiten durfte - glücklicherweise nie verloren hat.