Ali hatte Lesen gelernt. Während der Rest der Klasse zum Großteil schon Bücher las und lesefit war, hatte Ali Lesen gelernt und die Kinder
applaudiertem Ali. Zu sehen, dass der Rest der Klasse erkannt hatte, dass Ali anders lernte und dennoch lernte, war ein großes Geschenk.
Nicht nur für Ali, sondern auch für mich. Mit Ali begann sich mein Unterricht zu ändern. Meine Sichtweise, meine Haltung, meine Einstellung.
Doch dann kamen die Zeugnisse. Damals erteilten wir noch Noten ab Ende der Klasse 2 und es schien unmöglich, Alis Entwicklung in Noten zu fassen.
Ein Notenzeugnis hätte Ali bescheinigt, dass er in allen Lernbereichen und Fächern maximal ausreichende Leistungen erbracht hätte. Maximal. Ein Notenzeugnis hätte nicht annähernd spiegeln können, welche immense Entwicklung Ali durchlaufen hätte.
Ein Notenzeugnis hätte sein Scheitern dokumentiert, nicht aber sein Gelingen.
Das Gelingen aber, so kann man es nachlesen, soll dokumentiert werden. Stärken herausgestellt, Positives dargelegt...
Ein Paradoxon.
Das war die Zeit des Umbruchs. Des Aufbruchs, des Erkennens, dass Schule sich verändern muss.
Ich schrieb Ali ein Berichtzeugnis. Natürlich nicht, ohne das zuvor mit der Schulaufsicht zu klären, aber er erhielt keine Noten.
Ich schrieb auf, was Ali gelernt hatte und das waren zum größten Teil Dinge, die nicht im Lehrplan zu fnden waren.
Aber waren sie deshalb wertloser?
Oder waren sie nicht weitaus wervoller, weil sie bedeuteten, dass ein Kind sich trotz aller Widrigkeiten weiterentwickelt hatte?
Ist nicht jede Entwicklung annerkennenswert?
Ali selbst fand das Berichtzeugnis nicht sehr erstrebenswert, er wollte so sein, wie alle. Er wollte ein "normales Zeugnis" haben und es war gar nicht so einfach, ihm zu erklären, warum sein Zeugnis auch ein "normales" war.
Wir fanden letztlich einen guten Weg miteinander, aber der Weg war mühsam und steinig und vor allem für Ali ganz und gar nicht einfach.
Mit Ali begann mein Umdenken.
Und das setzt sich bis heute fort!